Gabriele Beßler:

 

 

GRENZGÄNGER AUS DER VOGELSCHAUPERSPEKTIVE

 

Im Zeitalter der Globalisierung und in der Phase der erst kürzlich erfolgten Osterweiterung der EU könnte es wichtiger denn je sein, Autochthones herauszudestillieren. Nicht der kommerziell erwünschten Gemeinsamkeiten von Völkern und Ethnien gilt es sich zu erinnern (diese Kriterien werden eher den Gedanken an die mögliche Öffnung der Märkte befördert haben), sondern ihre Eigenheiten und diejenigen Merkmale, die sie auszeichnen und unterscheidbar machen. Neue und alte Erkenntnisse darüber werden sich aus verschiedenen Blickwinkeln offenbaren – politische, wirtschafts- bzw. gesellschaftswissenschaft-liche, historische, ethnologische – und vielfältige Gründe, warum die Zusammenführung, etwa aufgrund wirtschaftlichen Ungleichgewichts von Völkern oder aus Angst vor Autarkieverlust durch Überfremdung, scheitern könnte. Kontrollier- und manipulierbare, weil allen gemeinsamen Mechanismen kontra individualistischen Besonderheiten; (manchmal auch) philantropische Welterklärungsmuster kontra Xenophobien.

 

Was nun aber ist mit dem Fremden, das weitgehend unerkannt eine parallele Existenz innerhalb einer (uns Europäern) vertrauten Umgebung führt? Etwas also, das da ist, dem man aber keine Aufmerksamkeit schenkt und darin deshalb auch keine Bedrohung sieht? Die Deutsch-Portugiesin Susanne Themlitz hat sich seit Beginn der 90er Jahre künstlerisch dem Fremden genähert und von der Frage leiten lassen, welche Entdeckungen inmitten bzw. jenseits beispielsweise von „Etholomanien und Anthrophobien“ harren mögen. Aus einer langwierigen Spurensuche, die zunächst eine umfangreiche Sammlung von Hinweisen voraussetzte, ging eine quasi wissenschaftliche Bestandsaufnahme von Arten in Wort und schließlich sogar Bild hervor. Die focussierten Verhaltensweisen finden sich beschrieben in lakonischen Texten und Gestalt nehmen die von Susanne Themlitz isolierten Ethnien der „Murrköpfe“, „Egomanier“ oder „Wirrwesen“, „der Schmarotzer“, „Aussenseiter“ sowie den „veränderlichen Gattungen“ („genus mutabile“) in Masken und ‚Portraits‘, Artefakten und Fundstücken an. Inszeniert finden sich die Typen und ihre Lebensräume in einer Mischung aus Versuchsanordnung und musealer Präsentation – nebst Protokollen ihrer Besonderheiten, ihres Selbstverständnisses und ihrer sozialen Strukturen. Zwar gibt es vereinzelte und eigenständige 'Charaktere, aber stets ist ihr deren kontextuelle Einbindung wichtig.

 

Jüngst auf der Spur von "Rivalen Grenzgängern anonyme(n) Gesellschaftswesen" vermittelt Susanne Themlitz die Geschichte dieser Sozietäten wiederum kontextuell gebunden in dem überschaubaren Territorium einer Jagd. Dies ein Ambiente, das nicht nur dem mehr oder minder stark ausgeprägten menschlichen Urtrieb des Jagens und Sammelns seit jeher vertraut ist, sondern auch verschiedene extreme Standpunkte ermöglicht. Manchmal erweist sich via Hochsitzen, eher die Draufsicht als optimale Einsichtnahme, dann wieder bleibt nur das unerreichbar in beinahe luftiger Höhe Schwebende, das sich zwar den Blicken darzubieten scheint, oftmals jedoch nicht mehr als ein Hinweis auf etwas abwesend Anwesendes ist. Eventuelle Machtgefühle über die ins auch hier ins Blickfeld geratenden, mal mehr dem humanen, mal mehr dem tierischen Bereich zuzuordnenden  schimärischen Kreaturen können Betrachter jedoch kaum ausleben, denn es bleibt meist offen, wer auf diesem Terrain der ‚Grenzgänger‘ und ‚anonymen Gesellschaftswesen‘ eigentlich wen beobachtet. „Sobald sie ein fremdes Geräusch hören, verziehen sie sich in ihren Schlupfwinkel oder auf eine Beobachtungsstation“, hält das Protokoll fest.

 

Aus diesem Lebensumfeld seltener Typen nahe ihren Behausungen oder Schlafstätten ragt ein bemerkenswertes Monument heraus – und bietet sich nicht zuletzt deshalb einer gesonderten Interpretation. Ähnlich einem Mahnmal schwebt „Rola“ über dem als Fremden in eine befremdliche Enklave einbrechenden Betrachter: Wie aus einem dramatischen Geschehen der antiken Bühne erwächst es, auf überragendem Kothurn, aus dieser vertraut-unvertrauten Parallelwelt. Stelzenartig bewehrt finden in luftiger Höhe Metall und Federn zueinander. Läßt in dieser ‚zufälligen‘ Begegnung von Elementen, in einem – ironisch gemeinten ? – Ekklektizismus Dada grüßen ? Oder finden sich in diesem titelgleich mit „Rola“ („rolle !“) bezeichneten Rahmenrudiment eines Fahrrades Merkmale einer primitiven bzw. zum Stillstand gekommenen Kultur, die entweder die eigentliche Funktion verkennt und nun als Totem betrachtet? Möglicherweise ist es das Monument einer statischen Gesellschaft, die das Rad hinter sich gelassen hat, um Zeit und Raum in einer anderen Gangart zu überwinden. Ins Unendliche erstarrt, verbleibt in diesem fragilen Konglomerat ein Eichelhäher in einer jeglicher Bodenhaftung enthobenen Bewegung. Immerhin eine Fähigkeit, die offensichtlich auch in diesem Biotop natürlicherweise nur den Vögeln eigen zu sein scheint. Oder ist auch dieser Eichelhäher nur ein zufälliges Relikt aus der Menschen-Welt, die in der lateinischen Naturgeschichte des Plinius – will auch das der Zufall ? – genau dieser Spezies die Gabe zusprach, u.a. die Stimme von Turteltauben („rola“) imitieren zu können?

 

In diesem rätselvollen Gebilde kulminiert der Kontrast von – so scheint es wegen der gerade mal punktuellen Bodenberührung – ungewollter Erdverbundenheit und dem Drang, die Sphäre zwischen Himmel und Erde für neue Formfindungen (Utopien) auszuloten. Andererseits: Obgleich es Oben und Unten gibt, spiegeln sich in diesen Bezeichnungen eher topografische Koordinaten, denn Kennzeichen eines hierarchischen Systems. Ob es „Einsame Harmlose“, „Egomanier“, „Unvollkommene“ oder welche Gesellschaftswesen auch sein mögen, deren Universen Susanne Themlitz bisher vorstellte, immer stehen ihre geschilderten Gemeinsamkeiten in fragilem Gleichgewicht zu ihrem Drang nach Autarkie und Unverbundenheit: Instabile Charaktere, die mit einem Anstoß so leicht ins Schwanken geraten können, wie die unbewegte Beweglichkeit von „Rola“. 

 

Die jeweiligen Standpunkte von denen aus, das scheinbar Fremde zu betrachten ist, sind ubiquitär, und oft wechselt man sie unschlüssig. „Die Kluft zwischen dem Rationalen und dem Spirituellen, zwischen dem Äußeren und dem Inneren, dem Objektiven und dem Subjektiven, Technischen und dem Moralischen, dem Universellen und einmaligen wird immer größer“ formulierte der tschechische Staatspräsident Vaclav Havel bereits 1994 hinsichtlich der Frage, wie die Zivilisation auf Dauer friedlich koexistieren können, wenn sie einerseits so global und andererseits so multikulturell geprägt sei. Zaghaft hoffnungsfroh stimmen die Aussichten des Harvard-Politologen Stanley Hoffmann knapp 10 Jahre später, wenn er den Weg von einer nationalen zu einer ‚wenigstens‘ europäischen Identität beschreibt. Angesichts jener so auffällig kleinen Schritte sei jedenfalls vorerst nicht mit der Ausbildung eines „weltbürgerlichen Bewußtseins“ zu rechnen.

 

„Das Sozialverhalten zu Nahestehenden ist sehr unterschiedlich. Regeln sind schwer zu erklären. Übungen sind meisterhaft: Nervös und misstrauisch, mit plötzlichen und schnellen, vernichtenden, Reaktionen im Zickzack. Sie flößen Respekt ein. Sie vermehren sich und können auch eine Plage sein. Arme verheimlichende Enthusiasten. Sie sind gewöhnlich und verwechselbar. Ihre besten Tage sind dahin. Sie leben in mehr oder weniger zahlreichen Gruppen. Ohne sich zu vermischen. Furchterregend. Sie greifen an. Zögern. Richten Schaden an. Sind vorsichtig und argwöhnisch – ihr Ursprung ist ominös. Hindernisse ignorieren sie. Und kennen die Qualitäten und Schwächen der anderen. Sie schaffen es nicht den Regeln auszuweichen und haben schwere Zeiten, wenn sie von Bekannten aufgesucht werden. Sie müssen sich identifizieren. An manchen Tagen scheinen sie faul zu sein, an anderen sind sie unnahbar. Um so verwirrter, um so beliebter. Geliebt und gefürchtet.”